Dominohaus Reutlingen

Exposé

Die Kunst spiegelt unsere gesellschaftliche Entwicklung wider. Der einzelne Mensch erscheint in ihr wie auf einer unmerklichen Insel, auf der er zunächst Spuren hinterlässt, bevor ein deutlich Geschafftes erwächst. Bernhard Merkerts Malerei veranschaulicht seinen eigenen Prozess, dessen Schaffenszeit von rund zwanzig Jahren eine fortwährende Steigerung wiedergeben.

Konsequent von Anfang an entscheidet er sich intuitiv für eine seiner Wesensanlage verwandten Darstellungsweise: Spontan, gestisch, grell, spannend, geheimnisvoll oder gefühlsbetont. Er verzichtet auf naturgetreue Wiedergabe von Form und Farbe des Dargestellten. Die ‚expressive Malerei’ regeneriert sich seit über hundert Jahren. Wandlungsfähig wie ein Chamäleon vermag sie unterschiedlichen Charakteren und deren Leitgedanken nachzukommen. Merkert malt in Acryl- und Mischtechnik. Die Spannweite seiner Motive reicht von monochromen Farbflächen bis zu den visuell zugänglichen Landschaften. Seine Stärke ist die Flüchtigkeit des Moments unmittelbaren Empfindens.

Bei rein informellen Arbeiten sind die Farbstriche sanft oder kräftig verteilt, eingebettet in teilweise unzähligen Schichten, entfalten sich zuweilen ausschweifende, innig seiner jeweiligen Stimmungslage, Fantasiegebilde. Das Informel ist eine um 1945 in Paris entstandene europäische Kunstrichtung. Sie war der Ausdruck westlich-demokratischer Freiheit gegenüber stalinistischer Ära im Osten. Heute ist sie ein Mittel uneingeschränkter Selbstbesinnung. Bezeichnend für eine impulsive Erinnerung einer Gedankenvorstellung ist Merkerts Abbildung Verborgene Leidenschaft, (2007). Nur vage ahnt der Betrachter eine ungestüme Umarmung zweier Liebenden, deren Anwesenheit mit der Erkenntnis des Farbrausches schillert. Zwar geht es hier wie auch in anderen Bildern um die Lust, sich in Farben auszudrücken, doch in Wirklichkeit verbirgt sich mitten darin: Heiterkeit, Laune, Begeisterung, aber auch Stille.

Der Betrachter sollte sich auf die Bilder einlassen, ihren Pinselspuren folgen, das malerische Gelände erkunden, Akzente wahrnehmen und vor allem Farben auf sich einwirken lassen. Auch das bildlich angedeutete Motiv eines Engel unterwegs, (2007), lebt von der suggestiven Wirkung seiner Farbigkeit. Eine formatausfüllende engelsähnliche Gestalt schwebt von links nach rechts, Arme und Flügel wie fächelnd in Bewegung. Das ‚göttliche Wesen’ scheint mit dem Bildhintergrund zu verschmelzen. Ein orangefarbener Fleck deutet einen formlosen Heiligenschein an. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen und insgesamt auch keine Umrisslinien, sein Körper bleibt sphärisch. Optisch ist er kaum zu fassen und nur dank poetischer Bild-Kommentierung und unserer abendländisch-christlichen Kultur erkennen wir schließlich die figürlich feierliche Existenz. Wir erleben ein Déjà-vu.

Zufälligkeiten des spontanen Malvorgangs sind nicht ausgeklammert. Ihre Bildstrukturen entwickeln sich wie aus sich selbst heraus. So suggeriert das Motiv Kaskade, (2004), einen Wasserfall, der tatsächlich aber aus den geflossenen Farbspuren entspringt.

Gerade so verhält es sich mit der Serie der vegetativ-floralen Stücke. Mit raschem, breiten oder schmalen Pinselstrich entstehen sehr farbkräftige und emotionale Bilder. Ihre feinfühlige oder satte Durchmischung reiner Farben hinterlassen eine leidenschaftlich forsche Bewegung. Bei Blütenduft, (1997), ist der Betrachter inmitten eines Blumenmeeres und mit ein wenig Fantasie, glaubt er einen sommerlichen Blumenstrauß duftend wahrzunehmen. 

Die Arbeiten haben oft ihren Ursprung in erlebten Situationen: Ein Spaziergang im Grünen, Aufenthalt am Meeresstrand oder Urlaub in den Bergen. Es sind Beispiele wie durch Dichte und Überlagerung Motive abstrahiert und mit dem gefühlsmäßigen Erfassen von Stimmungen Ereignisse auf der Leinwand gebannt werden.

In den Naturkompositionen schwingt im Hintergrund die Leuchtkraft der Landschaften eines William Turners mit. Die atmosphärisch adaptierte Farbmalerei erscheint in Merkerts Leitmotiven zuweilen wie wogendes Meeresrauschen, besonders Farblandschaft I, (2001) und Erwärmung II, (2006). Jedoch auch hier spüren wir neben den Zufälligkeiten des spontanen Malvorganges die kalkulierte Künstlerhand – Farben nehmen Formgestalt an. Ihre Umsetzung ereignet sich mal in heftigerer, mal in beruhigterer Form als Folge des Arbeitsprozesses, Feuertanz, (2007), und Küstenlicht, (1999). In ihnen sind Deckschichten von zeichnerischen Farbformen und Farbschleiern, fließenden Farbflecken und Farbinseln verwoben, fühlbare, sinnliche Erfahrungen eingearbeitet.

Merkerts Kraftquelle ist das Informel, das er formal-gestalterisch und ausdrucksbezogen selbst in Naturvariationen hervorragend anzuwenden versteht. In seinem malerischem Weltbild wird die Wirklichkeit auf Farbenergien und deren Wirkungen zurückgeführt. Er ist auf der Suche nach Ausdrucksformen für das Verhältnis von Realität und Abstraktion, von Sinneseindruck und Erlebnis.

Stevan Nosal, Kunsthistoriker M. A., 2007

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